Digital, analog oder doch irgendwie hybrid?
Über den Grad der Digitalisierung im Straßengüterverkehr Gastbeitrag von Professor Dr. Christian Kille
Gibt es eigentlich noch Neues zum Thema „Digitalisierung im Straßengüterverkehr“ zu berichten? Oder wurde nicht schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem? Der Treiber Digitalisierung ist so breit und stark, trotzdem noch nicht ausreichend in die Köpfe diffundiert, dass es unbedingt notwendig ist, sich weiter damit auseinanderzusetzen.
Masse statt digitale Klasse? Oder doch die falschen Vorbilder?
Im Gegensatz zu zahlreichen Befragungen und Studienergebnissen bewerte ich die Logistik im Gesamten weder als innovationsfeindlich noch bei der Digitalisierung uninteressiert. Dies mag eine persönliche Prägung sein, die sich durch die Erfahrungen aus dem Austausch mit zahlreichen Logistikdienstleistungsunternehmen begründen lässt. Denn eines sollte bei Befragungen in der Logistik bedacht werden: Der Logistikdienstleistungsmarkt ist geprägt von zehntausenden Unternehmen – um genau zu sein 70.000 einschließlich 12.500 im Kurier-, Express- und Paketbereich. Davon werden dem Straßengüterverkehr direkt 35.000 zugeordnet (ohne die Kurier-, Post- und Paketdienste, die aufgrund ihrer Struktur eine Sonderstellung einnehmen). Diese stehen für 50 Prozent der Unternehmen im Logistikdienstleistungsmarkt, aber nur für gut 20 Prozent des Umsatzes. Dies zeigt sich auch an der Struktur in der Studie „Top 100 der Logistik“: Die Zahl der Unternehmen, die mehr als 50 Mio. € umsetzen, beläuft sich auf 200 bis 250. Demnach sind 99,5 Prozent kleine und mittlere Unternehmen.
Sicherlich kann dies nicht der Hauptgrund sein, dass in einigen Branchen der Digitalisierungsgrad weit fortgeschrittener ist, in denen eine ähnliche Struktur vorliegt. Diese Branchen sind jedoch meist IT-affin oder medienorientiert. Alle anderen kleinstrukturierten traditionellen Wirtschaftsbereiche stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie die Logistik.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Digitalisierung ist in der Logistik ähnlich weit fortgeschritten wie bspw. im Handel. Es gibt viele Leuchtturmunternehmen insbesondere die E-Commerce-Pure-Player, die den Handel aufmischen und umwälzen. Der Leidtragende ist der traditionelle, in großem Maße von Klein- und Kleinstunternehmen geprägte Handel in den Innenstädten. Hier ist auch die Parallele zu erkennen: Diesen Händlern fehlen entweder die finanziellen Möglichkeiten oder die praktischen Fertigkeiten, eine stringente und für ihre Kunden wertvolle Digitalisierung umzusetzen.
Klassenunterschiede? Der Faktor Finanzen
Ähnliches zeigt sich im Logistikdienstleistungsmarkt. Während die Top-Player der Logistik mit 100 Mio. € Umsatz und mehr Pilotprojekte und Digitalisierungsinitiativen starten, fehlen den kleinen Straßengüterverkehrsunternehmen die – einmal mehr – finanziellen Möglichkeiten und praktischen Fertigkeiten. Ein isolierter Pilot, der für einen Test auf Ausweitung in das gesamte Unternehmen geprüft wird, umfasst absolut gerechnet eine feste Investitionssumme, die nicht allzu stark von der Größe des Unternehmens abhängt. In Relation zum Umsatz oder zum gesamten Investitionsbudget kann dies für große Unternehmen zwar vernachlässigbar sein – für kleine und mittlere Unternehmen sind solche Budgets jedoch erheblich. Entsprechend ist der Digitalisierungsgrad der Top-100-Logistikdienstleistungsunternehmen in Relation zu manch anderen Branchen sehr hoch. Der Digitalisierungsgrad der restlichen 99,5 Prozent ist aus den genannten Gründen entsprechend sehr niedrig.
Masse und Klasse: Für mehr Best Practices aus dem Mittelstand
Deshalb sollte nicht darüber lamentiert oder herablassend über die Logistik berichtet werden, dass der Wirtschaftsbereich insbesondere durch die hohe Zahl der Straßengüterverkehrsunternehmen wenig innovativ und in der Digitalisierung abgehängt ist. Sondern es sollten die Beispiele hervorgehoben werden, bei denen kleine und mittlere Unternehmen erfolgreich Digitalisierungsprojekte umgesetzt haben oder davon profitieren. Diese Beispiele machen den anderen Unternehmen mit ähnlichen Rahmenbedingungen Mut, sich an diesen Best Practices zu orientieren und doch den unvermeidlichen Schritt zu mehr Digitalisierung zu wagen.
Ohne Klassenunterschiede: Gemeinsam vorangehen
Das wäre ein guter Schlussappell. Aber lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Der einzige und diesem Fall wichtige Unterschied zu anderen Wirtschaftsbereichen wie dem Handel ist, dass die meisten dieser kleinen und mittleren Unternehmen in Netzwerken eingebunden sind. Von vielen der Partner werden Werkzeuge bereitgestellt, die insbesondere Transportunternehmen digital integrieren (sollen). Dass hier aus unterschiedlichsten Gründen wie Unwissenheit, Missverständnissen oder Gleichgültigkeit ebenso nicht alles optimal läuft, ist ein anderes Thema. Was sich hier jedoch zeigt: Der Kunde, ob Spedition oder verladendes Unternehmen, bringt im Gegensatz zum Handel Möglichkeiten mit, an der Digitalisierung teilzunehmen. Sei es über die Anbindung zu Plattformen, durch Apps für Mobiltelefone oder mit der Integration der Telematik und der Kunden-IT. Das Potenzial für eine breitere Digitalisierung der Logistik und insbesondere des Straßengüterverkehrs ist gegeben. Es sollte nur gemeinsam angegangen werden.
Über den Gast-Autor:
Prof. Dr. Christian Kille ist Professor für Handelslogistik und Operations Management an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt und Lehrbeauftragter an der TU München. Wenn der Logistikweise nicht gerade damit beschäftigt ist, den Wirtschafts-Nachwuchs zu kultivieren, erforscht er die Trends in der Logistik. Als Branchenexperte unterstützt er Verbände und Ministerien mit Prognosen für die Entwicklung der Logistik in Deutschland. Vernetzen Sie sich mit ihm auf LinkedIn oder Xing.
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